FAZ - FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG,
21.09.2005
Einwanderungsland Indien
Längst nicht mehr nur für Hippies
Von
Martin Kämpchen, Santiniketan
21.
September 2005 Das Abendessen in einem der besten Hotels von Goa war
ausgezeichnet. Man saß im Garten unter Lampions, hatte zwischen
indischer und europäischer Küche wählen können, trank französischen
Rotwein. In der salzig-feuchten Brise, die vom Meer her wehte,
knatterten die Kokospalmen, die den Garten einrahmten. Von dem Abend
erquickt, riefen die deutschen Gäste den Koch, um ihm zu danken -
und zu ihrem Erstaunen trat ein Landsmann an ihren Tisch.
Der
Münchener hatte in Restaurants der Mittelklasse gearbeitet und vor
zwei Jahren den Absprung nach Indien gewagt. Er wohnte im Hotel,
erhielt in Goa sämtliche Zutaten für exzellente Gerichte, konnte
seine kulinarische Phantasie spielen lassen und außerdem von seinen
indischen Kollegen dazulernen. Gehalt? Weniger als zuletzt in
Deutschland, auch hatte er längere Arbeitszeiten, dafür aber eine
gute Wohnung, mehrere Bedienstete für billigen Lohn sowie
Möglichkeiten, zu reisen und sich zu entspannen. Kindererziehung?
Kein Problem, die kleinen Söhne hatten eine goanesische Kinderfrau.
Wie lange wollte er bleiben? Nicht das ganze Berufsleben. Die Kinder
sollten schon eine deutsche Schule besuchen. In einigen Jahren
hoffte er mit seiner indischen Fünf-Sterne-Erfahrung einen
Chefkoch-Posten in einem erstklassigen Hotel in Deutschland zu
bekommen.
Der Tourismus wächst rasant
Man
kam auf andere Europäer zu sprechen, die in der indischen
Hotelbranche Fuß gefaßt hatten. Der Abschwung im Auslandstourismus
nach dem 11. September 2001 ist endgültig überwunden. Nachdem das
politische und wirtschaftliche Klima im Lande positiv ist, schrecken
die Big-budget-Touristen nicht mehr vor Indien zurück. Der Tourismus
ist eines der am rasantesten wachsenden Gewerbe. Schon fehlen
Tausende von Betten in den Hotels der obersten Kategorie, und die
internationalen Hotelketten suchen mit Adleraugen nach neuen Plätzen.
Der Bedarf an hervorragend ausgebildetem Hotelpersonal wird längst
nicht mehr von Einheimischen gedeckt. Frage an den Münchener: Werden
Ihre Kollegen nachkommen? Man brauche schon Mut und Abenteuergeist,
ist die Antwort, und die Geduld, sich nicht von der oft
undurchsichtigen indischen Bürokratie unterkriegen zu lassen. Sie in
den Griff zu kriegen ist nur mit einheimischer Hilfe, also mit
Beziehungen, möglich. Zum Glück haben Inder selbst auf der
Managerebene die Zeit, sich mit den persönlichen Problemen der
Angestellten zu befassen.
In
der Tourismusbranche hat es schon immer Europäer gegeben. Man
erinnert sich an den französischen Architekten, der das Fort
Neemrana in Rajasthan in zerfallenem Zustand aufgekauft und daraus
ein hervorragendes Hotel aufgebaut hat, das die ursprüngliche
Architektur stilvoll nachgestaltet. Inzwischen hat er ein halbes
Dutzend ähnlicher Projekte an der Hand. Oder man erzählt von einem
Deutschen, der in der einzigartigen Flora und Fauna der Berge von
Nordkerala einen Ökopark mit kleinen Bungalows errichtet hat, die er
vermietet
Eine sinnvolle Arbeit leisten
Indien hat schon immer Individualisten angezogen, die den Mangel an
einer dichten Infrastruktur als ihre Freiheit auslegten, etwas
Ungewöhnliches aufzubauen. Menschen im Bereich von Entwicklung und
karitativer Arbeit hängen meist bewußt eine Karriere an den Nagel
oder unterbrechen sie, um unter den Randgruppen der Gesellschaft
eine schwierige Arbeit zu leisten. Das knappe Gehalt hindert sie
nicht daran. Ihr Profit ist, daß sie eine sinnvolle Arbeit leisten,
deren Nützlichkeit sie Tag für Tag erleben.
Einfacher macht es sich da die Goa-Fraktion, die aussteigt, um für
wenige ersparte Euros in Indiens Paradiesen zu kampieren. Sie nutzt
das Preisgefälle aus, um sich in Indien mit dienstbaren Geistern zu
umgeben, und betreibt oft im Namen eines einfachen Lebens einen
feudalen Luxus. Dazu gehören Lebenskünstler oder echte Künstler,
Althippies, Utopisten, Nirwana-Süchtige, Frühpensionäre und gelehrte
Eigenbrötler mit genialen Ideen. Manche bleiben das ganze Jahr
hängen, andere verbringen wie Zugvögel das „gute” Halbjahr, nämlich
Herbst und Winter, in Indien und die heiße Zeit in Europa. Sie
liegen nicht nur an Goas Stränden, sondern haben sich im Kullutal im
Himalaja, in den Krishna-Klöstern von Mayapur, im Aurobindo-Aschram
von Pondicherry oder in Auroville eingenistet. Ihre Kolonien hat es
immer schon gegeben. Sie waren Aussteiger, als sie ankamen, und sind
es geblieben.
Schauspieler mit Alabasterteint
Eine
neue Klientel sind eigentlich nur die weißhäutigen Stars und Models
männlichen und weiblichen Geschlechts in der Film- und Modebranche.
Helle Haut ist seit je chic im dunkelbraunen Indien. Der
antikoloniale Affekt gegen europäische Gesichter hat sich langsam
erschöpft, zudem bemüht sich Bollywood eifrig um Popularität über
die Landesgrenzen hinaus. So erstaunt es nicht, daß alle großen
Historiengemälde der letzten Jahre auch Schauspieler mit
Alabasterteint aufbieten. Wer fühlt sich berufen? Wer will nach
Bollywood oder ins indische Modegeschäft auswandern? Man darf sich
vor der Abreise nur nicht zu lange in die Sonne legen.
Hat
aber der arbeitswillige Technokrat, der es in Deutschland schon zu
etwas gebracht hat, keine Chance auf dem indischen Markt? Amit
Dasgupta, zweiter Mann in der indischen Botschaft von Berlin, ist
davon überzeugt, daß für Deutschland Indien die „Handelsadresse der
Zukunft” ist. Die Nachfragen von jungen Geschäftsleuten und
Ingenieuren, die in Indien Karriere machen wollen, häuften sich.
Wollen sie mit deutschen Konzernen und Organisationen nach Indien
gehen, etwa als Chefs oder Abteilungsleiter der indischen
Firmenbranchen? Das hat es doch immer schon gegeben! Nein, eben
nicht, sagt Dasgupta. Sie seien bereit, in großen indischen
Handelshäusern einzusteigen, besonders in jene mit multinationaler
Präsenz. Gerade auch in der Informationstechnologie und in
Management-Berufen gebe es qualifizierte Auswanderungswillige.
Werden sie ein Visum bekommen? Die Visumpolitik der indischen
Regierung, entgegnet der Diplomat, hat sich über die Jahre dem
Globalisierungstrend angepaßt und ist immer liberaler geworden.
Indien als Karrieresprungbrett?
Der
Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer, Bernhard
Steinrücke, mit Sitz in Bombay bezweifelt allerdings, daß viele
Deutsche ihre Karriere in Industrie und Wirtschaft dieses Landes
suchen. „Zur Zeit ist das noch nicht der Fall, obwohl die
deutsch-indischen Handelsbeziehungen boomen.” Zahlreiche
Praktikanten und Referendare kommen, um sich in Indien berufliche
Sporen zu verdienen. Indien als Karrieresprungbrett, gewiß, doch
nicht als Auswanderland. Noch nicht?
Indiens expandierende Wirtschaft hat inzwischen einen akuten Mangel
an Fachkräften in ganz bestimmten Bereichen. Das indische
Erziehungswesen muß sich radikal umstellen, um nicht mehr die
konventionellen Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure zu
produzieren, die dann ohne Job bleiben. Die südindische Zeitschrift
„The Week” hat Anfang August aufgezählt, daß Computeringenieure und
Fachleute im Bereich der Informationstechnologie fehlen, ebenso
Piloten, Flugzeugingenieure und Ingenieure in der Automobilindustrie.
Fachärzte und Spezialisten im gehobenen Gesundheitswesen,
Spezialisten in der Biotechnologie, der Pharmaindustrie und in den
lebensmittelverarbeitenden Industrien würden verzweifelt gesucht. In
einem so riesigen Land wie Indien gehen die Defizite sofort in die
Hunderttausende.
Wie
lange wird es dauern, bis Indien gezielt die Arme nach Deutschen
ausstreckt, die solche Lücken füllen oder die Inder ausbilden, die
sie füllen werden? Zunächst ist die Rede von Kandidaten aus anderen
asiatischen Ländern, deren Gehaltsforderungen dem indischen Niveau
angepaßt sind. Außerdem beobachtet Steinrücke bereits eine markante
Rückkehrbewegung von Auslandsindern in ihre Heimat.
Wann kommen wir Deutschen dran?
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