Neue
Zürcher Zeitung
NZZ ONLINE - 7. August 2009,
Work and Travel
Unterstützung bei der Arbeit mit behinderten Kindern und alten
Menschen im indischen Goa
von Valerie Zaslawski
Am
Morgen unterrichten und am Nachmittag Sonne und Meer geniessen.
Am Colva-Strand in Goa lassen sich mit einem Praktikum im Sozialbereich
Reisen und Arbeiten perfekt verbinden.
Geduldig versucht der neunjährige Ram die bunten Strohhalme
ineinander zu verschränken.
Zuerst Orange, dann Weiss, dann Grün. Ist das Kunstwerk
einmal fertig, soll es ihm als Halsschmuck dienen, welchen er zur
bevorstehenden Feier der Unabhängigkeit Indiens tragen wird. Der
indische Knabe besucht eine Sonderschule für behinderte Kinder in
Colva, einer kleinen Stadt im indischen Gliedstaat Goa. Zusammen mit
seinen acht Klassenkameraden bereitet er sich auf die Feier vor, bei
der die Schüler in selbstgebastelten Kostümen vortanzen und
vorsingen werden. Die Lehrerin Libi und ich unterstützen die Kinder
dabei.
Vielfältige Tätigkeiten
Es war schon
lange mein Wunsch, an einem Sozialprojekt als Volontärin
mitzuarbeiten, und als ich vergangenen Februar im Internet auf die
Praktika-Vermittlungs-Stelle «praktikawelten.de» stiess, kam dieser
Traum der Wirklichkeit einen bedeutenden Schritt näher.
Freiwilligenarbeit, «Work and Travel» sowie Praktika werden in
zahlreichen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten angeboten. Die
Arbeitsbereiche reichen von Schulunterricht über Tierpflege bis hin
zu Sozialarbeit, Marketing oder Humanmedizin. Die Entscheidung war
schnell gefällt. Das zweimonatige Projekt «Unterrichten in Goa»
schien mir am interessantesten zu sein. Eine gute Gelegenheit,
Reisen und Arbeiten miteinander zu verbinden.
Vor Ort
betreut wird dieses Projekt von der Partnerorganisation
International Development Exchange (Idex) mit Hauptsitz in Delhi.
Diese Nichtregierungsorganisation setzt sich seit bald zehn Jahren
für Behinderte und sozial Benachteiligte ein. Speziell in Goa wird
eine breite Palette von Sozialarbeiten angeboten. Neben staatlichen
Schulen besteht die Möglichkeit, auch in Sonderschulen zu
unterrichten. Vor allem in den Schulen für Behinderte ist die
Freiwilligenarbeit erwünscht, da oft eine einzige Lehrkraft für 15
Schüler verantwortlich ist. Die Klassen sind nach dem Grad der
Behinderung und dem Alter der Kinder aufgeteilt.
Der
Schulalltag gleicht jenem in westlichen Ländern: Jeden Morgen –
bevor der Gong die Schulstunde einläutet – soll eine kurze
Sportaktivität den Kreislauf der Kinder ankurbeln. Dann drängeln sie
lärmend in ihre Klassenzimmer, die nur mit Vorhängen unterteilt
sind. Kaum betritt Libi in ihrem Sari-Gewand den Raum, kehrt Stille
ein. Die 35-jährige Frau unterrichtet seit mehreren Jahren an dieser
Sonderschule. Durch ihre besondere Art motiviert sie die Kleinen
jeden Tag von neuem. Der Unterricht findet hauptsächlich auf
Englisch statt. Die Klasse kritzelt die Vokabeln, die Libi mit
bunter Kreide an die Tafel schreibt, in ihre Heftchen. Der eine oder
andere braucht dabei meine Hilfe. Die meisten Kinder in dieser
Klasse sind weniger geistig behindert als feinmotorisch. So führe
ich die Hand des achtjährigen Shiva, eines Klassenkameraden von Ram,
bei den Schreibübungen.
Die Arbeit in
Indien hat aber nicht nur ihre schönen und fröhlichen Seiten. Zwei
Nachmittage in der Woche besuche ich ein Alters- und Pflegeheim am
Rande der Stadt. Bereits von aussen macht das einstöckige Gebäude
einen heruntergekommenen Eindruck: Kaputte Fensterscheiben, rinnende
Wasserröhren und Löcher in den Wänden prägen das Bild. Doch noch
viel schlimmer ist der Zustand im Innern des Heims. Im knapp zwei
Meter breiten Holzflur sitzen Frauen und Männer getrennt auf Stühlen
und starren in den tristen Innenhof.
Als ich den
Flur entlanglaufe, hält mich ein älterer Mann an der Hand zurück und
zerrt mich auf den neben ihm stehenden Stuhl. Sofort fängt er an,
mir seine Lebensgeschichte zu erzählen – in gutem Englisch. Er habe
als Fischer gearbeitet und seit seiner Kindheit in Colva gewohnt. Er
habe Goa nie verlassen. Jetzt sitze er hier, Tag für Tag, und warte,
bis er endlich sterben dürfe.
Alleine und
verlassen, schlagen die Menschen hier die Zeit tot. Müde liegen die
Frauen in Fetzen gewickelt auf den Holzbetten ohne Matratzen und
ohne Bettlaken. Der Gestank des Urins in den Zimmern ist kaum
auszuhalten. Es gibt keine Verwandten, die sich um sie kümmern.
Hätten die Bewohner Angehörige, wären sie nicht hier. In Indien ist
das Altersheim – anders als in westlichen Ländern – eine
Institution, die von der breiten Bevölkerungsmehrheit gemieden wird.
Traditionell pflegt die Familie die älteren Angehörigen bis zum
letzten Tag.
Der grosse Tag
Die indischen
Familien bestehen in der Regel aus zahlreichen Mitgliedern. Dies
wird einem spätestens dann bewusst, wenn man das Wochenende an einem
der zauberhaften Strände verbringt. Unter Palmen tummeln sich Mutter
und Vater mit ihren Söhnen und Töchtern. Auch der Onkel, die Tante
und die Grosseltern fehlen nicht. An diesem Wochenende ist der
Strand überfüllt, denn auf den Tag genau vor 61 Jahren erhielt
Indien seine Unabhängigkeit.
Ein grosser
Tag auch für meine Schulklasse. In der Aula der Sonderschule geht es
chaotisch zu und her. Die letzten Vorbereitungen werden getroffen.
Die Kinder schwirren mit ihren Kostümen umher und üben ein letztes
Mal den einstudierten Tanzschritt. Auch Ram ist anwesend. Mit den
Strohhalmen um den Hals sitzt er neben seinem Vater und verfolgt
gespannt das Geschehen. Der Direktor der Schule hält eine Ansprache
und überlässt kurz darauf den Kindern die Bühne. «You are my
sunshine, my little sunshine, you make me happy when skies are grey,
you'll never know dear how much I love you, so please don't take my
sunshine away», singen die Kinder. Das Publikum klatscht mit, und
auch Libi und ich sind stolz auf unsere Klasse. Flüchtig winkt uns
Ram zu, der mehr mit dem Kauen seiner Strohhalme beschäftigt ist als
mit Singen und Tanzen.
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Gut zu wissen
Anreise:
Swiss fliegt von Zürich nach Mumbai. Für Reisen nach Indien braucht
man ein Touristenvisum, das auf der Botschaft in Bern eingeholt
werden kann. In Mumbai werden die Teilnehmer von der lokalen
Partnerorganisation von «Praktikawelten» am Flughafen abgeholt.
Praktika: Der deutsche Veranstalter «Praktikawelten» bietet
Freiwilligenarbeit in einem Zeitraum von zwei Wochen bis zu einem
Jahr an.
Anmelden sollten sich Interessenten spätestens zwei Monate vor
Reiseantritt. Die Projektkosten für einen Monat betragen ungefähr
1000 Euro. Weitere Informationen sind im Internet erhältlich unter
www.praktikawelten.de. Es werden keine speziellen Vorkenntnisse
benötigt.
Weitere
Anbieter: Einer der grössten Anbieter in diesem Bereich ist
«Volunteer Abroad»,
www.volunteerabroad.com. Zusätzlich bietet auch «Global
Volunteer Network» Freiwilligendienste in aller Welt an:
www.volunteer.org.nz.
Allgemeine
Informationen: Die «International Volunteer Association» als
Verband empfiehlt sich als Anlaufstelle für erste Informationen: |