FOCUS
ONLINE - 9. Februar 2010
Goa war gestern
von Michaela Strassmair
Wer heute Strandleben auf dem Subkontinent sucht, fährt an die
Südspitze – wo sich Baywatcher mit Schnauzbart und Trillerpfeife um
Badegäste kümmern.
Der Pfiff
schneidet wie ein japanisches Kochmesser durch das sanfte Plätschern
der Wellen. Immer schriller, immer länger. Kunjumon bläht die Backen
auf. Seine falsche Ray-Ban-Sonnenbrille, die sowieso nur einen Bügel
hat, rutscht noch schiefer. Die Trillerpfeife im Mund, fuchtelt er
wild mit einer roten Flagge Richtung Meer. Die Rettungsaktion läuft
an: Zwei Kollegen reißen sich die hellblauen Uniformen vom Leib und
sprinten in weißen Unterhosen ins Wasser. Auf einen nichts ahnenden
Urlauber mit Boogie-Board zu. Er protestiert, doch die
Rettungsschwimmer zerren ihn aus dem Wasser.
Indiens nächster Superstrand
Kunjumon, dessen
Name so viel heißt wie „kleine Sonne“, ist Chef der Wasserwacht am
Strand von Kovalam. Kovalam, das ist Indiens nächster Traumstrand.
Sozusagen der Nachfolger von Goa, das in den vergangenen Jahren vom
Hippie-Himmel zum Ballermann Indiens mutierte. Kovalam liegt an der
Südspitze Indiens, im Bundesstaat Kerala, 15 Kilometer südlich von
Trivandrum. Und erstreckt sich über vier Buchten, die sich zwischen
Palmenwäldern und Arabischem Meer verstecken. Kovalam ist leise.
Statt ohrenbetäubender Goa-Trance-Party-Musik rauschen hier die
Wellen gegen den Strand. Nur ab und an unterbrochen von den
Trillerpfeifen der insgesamt 15 Baywatcher.
Kovalam ist
gemütlich. Und das selbst zur Hochsaison an Weihnachten. In den
Wäldern aus Kokospalmen verstecken sich etliche Hotels und
Guesthouses, doch seit der weltweiten Finanzkrise bleiben die Gäste
aus. „Es kommen keine Charterflüge mehr aus England“, erklärt
Kunjumon. Nur noch Individualtouristen, Inder und einheimische
Honeymooner. Wie Nisha und Rajesh aus dem mehr als 2000 Kilometer
entfernten Delhi, die vor vier Tagen geheiratet haben und Hand in
Hand aus dem Wasser tänzeln. In voller Montur. Rajesh in Hemd und
langer Hose, Nisha trägt klatschnasse Jeans und ein langärmeliges
Shirt, bei 32 Grad Celsius Lufttemperatur. Dass Inder mit allen
Klamotten ins Wasser gehen, ist so normal wie Kunjumons Schnauzbart.
Jeder Südinder trägt ihn als Symbol der Männlichkeit, sobald er
sprießt. Normal ist allerdings auch, „dass viele indische Touristen
kaum schwimmen können und sich trotzdem mutig in die Brandung
werfen“, seufzt Kunjumon.
Künstliches Riff als Wellenbrecher
Hinzu
kommt eine nicht ganz ungefährliche Strömung in den vier so harmlos
wirkenden Bilderbuchbuchten von Kovalam.
Doch es würde nicht
zur „Alles-ist-immer-möglich“-Lebensphilosophie des Landes passen,
sich das Geschäft mit den Touristen kaputt machen zu lassen. Also
wird die Natur gefügig gemacht. Eine amerikanische Firma baut nun im
Auftrag des Tourismusministeriums ein künstliches Riff vor die
Bucht. Dieses soll nicht nur die gefährliche Strömung zähmen,
sondern auch verhindern, dass noch mehr von dem weißen Sandstrand
weggeschwemmt wird. Mit den riesigen, rund geschliffenen Felsblöcken
aus Granit, dem weißen Sand und den vielen Palmen haftet den
Kovalam-Buchten nämlich etwas seychellenhaftes an – Seychellen für
Normalverdiener. Und Geringverdiener. Ein frisch gepresster
Ananassaft kostet in Kovalam 50 Cent. Ein frisch gefangener
Thunfisch zum Abendessen für zwei Personen rund zehn Euro.
Varkala – noch eine Goa-Alternative
Ein
ähnlich moderates Preisniveau herrscht auch am Strand von Varkala,
das rund 70 Kilometer nördlich von Kovalam liegt.
Noch eine
gemütliche, ruhige Alternative zu Goa. Hotels, Guesthouses, Shops
und Restaurants reihen sich oben auf einer 50 Meter hohen roten
Klippe aneinander. Von dort aus hat man nicht nur den besten Blick
auf die regelmäßig vorbeiziehenden Delfine und die samtbraunen
Schwingen der wie Weißkopfseeadler aussehenden Vögel, sondern auch
auf den „Sündenvernichter“. So heißt die Übersetzung des „Papa
Nahini“-Strandes, eines alten Hindu-Pilgerortes, der am Fuße der
roten Klippen liegt. Ans südliche Strandende von Varkala pilgern
noch heute Hindus, um ihre Ahnen zu verehren. Und sich von Sünden
reinzuwaschen. Frauen in knallbunten Saris und Männer im
traditionellen Wickelrock.
Geheimes Biertrinken
Ein paar Hundert
Meter strandaufwärts liegen Touristen in Bikini und Badehose – die
gerne eine Sünde begehen. Nämlich Bier trinken. Das ist im
Bundesstaat Kerala nur in Restaurants und Bars erlaubt, die eine
Lizenz zum Alkoholverkauf besitzen. Die Erlaubnis ist jedoch
unerschwinglich teuer für die meisten Gastronomen. Deshalb wird das
Problem auf Indisch gelöst: Bierflaschen in Zeitungspapier wickeln,
servieren und unter dem Tisch des Gastes abstellen. Getrunken wird
aus großen Porzellantassen – damit die Polizei nicht sehen kann,
dass es sich um Bier handelt. Die Regierung kontrolliert den
Alkoholverkauf und es herrscht ein Werbeverbot für Alkoholika,
trotzdem wird in Kerala viel getrunken. Schuld daran sind
ausnahmsweise nicht die Touristen. Laut der Zeitung „The Hindu“
herrscht in dem vergleichsweise reichen Bundesstaat an der Südspitze
der höchste Alkoholkonsum pro Kopf in ganz Indien.
Kunjumon schüttelt den Kopf: „Immer diese betrunkenen indischen
Touristen, die nicht schwimmen können und keine Ahnung von den
Strömungen hier haben.“ Der zwangsgerettete Boogie-Boarder, ein
junger Mann aus dem benachbarten indischen Bundesstaat Tamil Nadu,
will nicht einsehen, warum er aus dem Wasser gezogen worden ist.
Er
war doch keine 50 Meter vom Ufer entfernt. Gestenreich diskutiert er
mit Kunjumon und den beiden Rettern in Unterhosen. Sie wollen ihm
sein Boogie-Board wegnehmen. Er wehrt sich.
Kunjumon
zieht den aufgebrachten Mann zur Seite, lächelt plötzlich und ruft:
„Shanti, shanti“ – das Sanskrit-Wort für Friede, Ruhe. |