DIE WELT ONLINE – 4. Juli 2010
Wie Siemens Deutschland den Rücken kehrt
von J. Hartmann und J. Hildebrand
Flucht ins Ausland: Siemens lässt immer mehr Produkte in Indien und
China entwickeln.
Das
stört den Betriebsfrieden in Deutschland.
Frühmorgens, wenn die Hitze noch erträglich ist, betritt Sudhendu
Tanksale das Einkaufszentrum in der westindischen Küstenstadt Vasco
da Gama.
In dem grauen Betongebäude schiebt er das schwere
Garagentor, von dem die weiße Farbe abblättert, nach oben. Er zieht
seine Schuhe aus, um ja keinen Dreck von den sandigen Straßen in
seine Praxis zu tragen. Tanksale ist Radiologe, einer der wenigen in
der Provinz Goa. Aus einem Umkreis von 50 Kilometern kommen seine
Patienten, die meisten ohne Termin, etwa 30 Menschen täglich.
Barfuß in der Arztpraxis
Sie sitzen in einem schmalen Flur, durch die mit Bastmatten
abgedunkelten Fenster schimmert Licht. An der Decke fächern zwei
Ventilatoren Luft, die penetrant nach Desinfektionsmittel riecht.
Auch die Patienten haben ihre Schuhe ausgezogen und warten barfuß,
bis sie Tanksale in einen kleinen Nebenraum führt. Dort steht der
ganze Stolz des 38-jährigen Arztes: ein Röntgengerät von Siemens.
Nach jeder Aufnahme muss Tanksale für zehn Minuten in die
Dunkelkammer, um das Bild zu entwickeln. Tanksale, lila Hemd, die
schwarzen Haare zum Seitenscheitel gekämmt, findet das zwar mühsam.
Für seine Bedürfnisse reiche der Apparat aber aus. Wichtig sei ihm
jedoch der Hersteller gewesen, der für Zuverlässigkeit stehe. „Ich
habe mich vor allem wegen der Marke für Siemens entschieden.“
Tanksales technischer Anspruch ist relativ niedrig, so wie
seine Schmerzgrenze beim Preis. Er hat einen Bankkredit über 750.000
Rupien für das Röntgengerät aufgenommen, rund 12.500 Euro. In
Deutschland sind einfache Röntgengeräte ab 30.000 Euro zu haben.
Digitale Geräte auf dem neuesten Stand der Technik können bis zu
200.000 Euro kosten.
Und
dennoch: Ärzte wie Tanksale sind die Kunden der Zukunft für Siemens.
Ausgerechnet der Münchner Konzern, dieses Symbol hochpreisiger
deutscher Technologie, dringt ins Billigsegment vor. Ausgerechnet
der Konzern, der wie kein zweiter für Ingenieurskunst aus
Deutschland steht, will künftig verstärkt seine Turbinen,
Röntgengeräte, Computertomografen, Verkehrsleitsysteme abspecken.
Die günstigen Geräte sollen helfen, in den sogenannten Bric-Staaten
Brasilien, Russland, Indien und China stärker Fuß zu fassen. „Smart“
wurde die neue Strategie intern getauft. Man könnte sie auch
„Siemens light“ nennen. Der Weltkonzern hat, skeptisch beäugt von
den heimischen Betriebsräten, die schlanke Linie entdeckt.
Wie
viele Konzerne hatte Siemens seine Produkte in den vergangenen
Jahrzehnten aus Europa in die Schwellenländer nur exportiert.
Das war Stufe eins der Globalisierung. Später wurden sie
vor Ort gefertigt, um die Kosten zu senken: Stufe zwei. Nun klettert
Siemens auf Stufe drei: Es soll verstärkt außerhalb Deutschlands
geforscht und entwickelt werden. „Mit unseren Hightech-Produkten
bedienen wir nur einen Teil des Marktes“, sagt Roland Busch, der
Strategiechef des Konzerns. „Wir müssen für die Schwellenländer
günstigere Produkte entwickeln, und zwar vor Ort. Denn die Leute im
Land wissen am besten, was die Kunden dort wünschen.“ Auch der
amerikanische Erzrivale General Electric (GE) schielt auf die
unteren Marktsegmente. Beim amerikanischen Konkurrenten heißt das
entsprechende Programm „reverse innovation“ („umgekehrte
Innovation“).
Absicherung nach unten
Herbst 2009. Siemens-Vorstandschef Peter Löscher sitzt in
der Berliner Repräsentanz seines Konzerns am Gendarmenmarkt. Sein
Sakko hat er über die Stuhllehne gehängt, die Manschettenknöpfe
seines Hemdes beiseitegelegt. Löscher hat gerade ein Treffen mit 500
Topmanagern des Konzerns hinter sich, er wirkt entspannt. Im
Gespräch mit der „Welt am Sonntag“ ist ihm vor allem ein Thema
wichtig: Smart. „Wir müssen unsere Produktpalette von unten
absichern“, sagt er. „Diese Produkte, die wir nun in
Schwellenländern entwickeln und herstellen, hat Siemens vorher nicht
anbieten können. Und in Deutschland wären sie auch nie entstanden.“
Der Vortrag eines indischen Managers auf der Tagung wenige
Stunden zuvor habe ihn sehr beeindruckt, fährt Löscher fort. Der
Mann habe über die hohe Säuglingssterblichkeit in Indien referiert,
über Krankheiten, die man im Westen schnell in den Griff bekommt,
die in Indien aber Jahr für Jahr Tausende von Toten fordern. Da habe
er verstanden, dass in Schwellenländern die Bedürfnisse etwa bei der
Medizintechnik ganz andere seien und Siemens Antworten liefern
müsse.
Löscher hat die Smart-Strategie vom früheren
Vorstandsmitglied Klaus Wucherer übernommen. Den ließ damals ein
Gespräch mit einem chinesischen Kunden keine Ruhe. Welchen Platz
Siemens bei Industrieaufträgen in China einnehme, wollte der Kunde
wissen. Position eins oder zwei, dachte Wucherer. Bei
Spitzentechnologie sei Siemens vielleicht vorne, aber im Gesamtmarkt
doch abgeschlagen, konterte der Kunde.
Das war im Jahr 2005. Das Gespräch sei die „Initialzündung“
gewesen, erinnert sich Wucherer. „Ich habe noch nachts im Hotel ein
Konzept geschrieben.“ Wenn man weltweit den Marktanteil erhöhen
wolle, könne man nicht nur auf Hochleistungstechnologie setzen, so
seine Leitidee. Wucherer überzeugte seine Vorstandskollegen. Fünf
Jahre später ist seine Idee Realität. „Das Geschäft im
Einstiegssegment kommt jetzt richtig in Fahrt“, sagt Strategiechef
Busch.
Lehrstunde an der Tafel
Eine knappe halbe Autostunde von Tanksales Röntgenpraxis
entfernt, am Panjim-Margoa Highway in Goa, hat Hemant Usgaonkar
seinen Arbeitsplatz. Er ist Chef des dortigen Siemens-Werks, in dem
auch Tanksales Röntgengerät hergestellt wurde. Im vergangenen Jahr
sei seine Fabrik für den Siemens-internen „Smart-Award“ nominiert
gewesen, sagt Usgaonkar stolz. Am Ende reichte es für Platz zwei,
Sieger wurde ein Standort in China.
Usgaonkar, ein kleiner Mann mit rundlichem Gesicht, lila
Hemd und grellroter Krawatte, lässt keinen Zweifel daran, dass sein
Werk mit 80 Mitarbeitern für den Weltkonzern mit mehr als 400.000
Beschäftigten ziemlich wichtig ist. Man wolle in Goa jedes Jahr
mindestens ein neues Produkt auf den Markt bringen, sagt er.
Natürlich ein smartes. „Smart“ scheint für den 49-Jährigen, der seit
24 Jahren bei Siemens arbeitet, fast die Strahlkraft einer Religion
zu besitzen.
Er
helfe Mister Löscher, den indischen Markt zu erobern.
Zweifel an der Light-Strategie begegnet Usgaonkar mit einem
Filzstift.
Im Besprechungsraum des Siemenswerks malt er eine Pyramide
an die Tafel. Die Spitze, das sind Röntgengeräte für mehr als
100.000 Dollar, also das traditionelle Siemens-Revier. Von denen
könne man auf dem Subkontinent jährlich vielleicht zehn Stück
verkaufen. Im mittleren Preissegment finden sich Geräte für 50.000
bis 65.000 Dollar. Dafür gebe es eine Nachfrage von 100 pro Jahr,
fährt Usgaonkar. Aber der wirklich große Markt liegt bei unter
20.000 Dollar. Da gehe es um 1000 Geräte. „You understand?“
Als letzten Beweis lässt Usgaonkar einen seiner Mitarbeiter
zum Hörer greifen und Sahil Rais anrufen, einen Mediziner, dem sechs
Kliniken unweit von Mumbai gehören. Nach zwei Wählversuchen steht
die Verbindung. Er stellt auf laut, es knackt und rauscht. „Ich habe
schon öfter zu Siemens gesagt: Eure Technologie ist ja schön und
gut, aber ihr müsst etwas am Preis machen“, übertönt Rais’ Stimme
die Nebengeräusche. In seinen Krankenhäusern werde pro Tag 100-mal
geröntgt. Aber es könnte noch öfter sein, glaubt Rais. Für eine
Röntgenaufnahme verlangt er, wie auch Tanksale in Goa, 150 Rupien,
rund zwei Euro. Das ist für 250 Millionen Menschen in Indien, die
mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen müssen, sehr viel Geld.
„Die Leute hier müssen jeden Penny aus ihrer eigenen Tasche zahlen“,
ruft Rais in den Hörer. Und die meisten seiner Patienten seien
Tagelöhner, vor allem aus Wäschereien. Für die müsste eine
Röntgenaufnahme eigentlich sogar weniger als 100 Rupien kosten. Rais
bräuchte, um seine Röntgenaufnahmen erschwinglicher zu machen, also
günstigere Geräte. Solche, die in Indien entwickelt und auch
montiert werden.
Ein Importgerät aus Deutschland, erzählt Usgaonkar, sei
nicht nur deutlich teurer, sondern könne auch viel, viel mehr als
wirklich nötig: „90 Prozent der Krankenhäuser hier brauchen so ein
Gerät gar nicht.“ In Indien müssen die Ärzte vor allem
Standard-Untersuchungen machen, Aufnahmen von Knochenbrüchen,
Bilder, um Schatten auf der Lunge und damit Tuberkulose
nachzuweisen. Gerade bei dem Millionenheer von Textilarbeitern ist
diese Krankheit verbreitet. Die meisten Ärzte brauchen robuste
Röntgenapparate, die Staub, Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit abkönnen
und nicht ausfallen, wenn die Netzspannung einmal wieder von 220
Volt auf 170 Volt fällt. Und trotzdem kosten die in Indien
produzierten Smart-Geräte nur ein Viertel der Importe made in
Germany.
Wie ist das möglich? Usgaonkar nimmt seine Besucher mit in
die Fabrikhalle nebenan und geht auf ein halb fertiges Röntgengerät
zu. Er greift in eine Kiste und zieht ein Pedal heraus. In
Deutschland sei das aus teurem Messing, sagt Usgaonkar. Warum, wisse
er auch nicht. In Indien würden sie normalen Stahl nehmen. „Das ist
ein paar Tausend Rupien billiger.“ Mit vielen kleinen Änderungen in
dieser Art komme da einiges zusammen. Zumal bei der Produktion im
Inland auch noch Einfuhrzölle und Transportkosten wegfielen.
Wachstum der Zukunft
„Hier gibt dir niemand auch nur einen Penny für etwas
Nettes, was nicht zwingend notwendig ist“, sagt Usgaonkars
Vorgesetzter Armin Bruck, der Chef von Siemens Indien. Bruck ist
überzeugt, dass sich mit Smart für Siemens Riesenchancen auftun.
Indien brauche Kraftwerke, Krankenhäuser, Züge, Flughäfen – und all
das gleich in hundertfacher Ausfertigung. Ein ganzes Land werde
modernisiert.
Auch Brucks Kollege in China, Richard Hausmann, setzt auf
Smart-Produkte. Schon jetzt erwirtschaftet der Konzern ein Zehntel
seines China-Umsatzes mit diesen einfachen und kostengünstigeren
Produkten. Wenn Siemens den Schwung in China mitnehmen wolle,
„brauchen wir eine lokale Produktentwicklung und Fertigung gemäß den
landesspezifischen Anforderungen“. Beispielsweise hat der Konzern in
China eine elektronische Steuerbox, groß wie eine Milchtüte,
entwickelt, die nun in der Pekinger U-Bahn Linie 10 die Klimaanlage
regelt. Das Topmodell aus Deutschland kann auf sämtliche Sprachen
programmiert werden. Das einfachere Modell made in China versteht
hingegen nur eine: Chinesisch.
Welches Potenzial für Firmen wie Siemens in diesen Ländern
steckt, zeigt ein Blick auf die Wachstumszahlen. Die vier Staaten
Brasilien, Russland, Indien, China, in denen 2,7 Milliarden Menschen
leben, konnten in den vergangenen Jahren fast ausnahmslos mit hohen
Steigerungsraten glänzen. Im Geschäftsjahr 2009 setzte Siemens in
diesen Ländern bereits 9,6 Milliarden Euro um. Zum Vergleich: In
Deutschland lag der Umsatz bei 11,5 Milliarden Euro. Siemens
erwartet, dass die Wirtschaftsleistung in den Bric-Staaten bis zum
Jahr 2030 dreimal so schnell wächst wie in den etablierten
Industrienationen.
Protest mit Trillerpfeifen
In jedes seiner Light-Produkte investiert Siemens
durchschnittlich 20 Millionen Euro. In Indien hat der Konzern mehr
als 40, in China mehr als 50 Angebote in Planung. Hinzu kommen
Dutzende weitere in Russland und Brasilien.
Es geht also um Investitionen von zwei bis drei Milliarden
Euro in den kommenden drei Jahren. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget
des Konzerns für Forschung und Entwicklung betrug im vergangenen
Geschäftsjahr 3,9 Milliarden Euro. Schwächt also die Offensive in
den Bric-Staaten die deutschen Standorte? In der Heimat formiert
sich zumindest Widerstand.
April 2010. Rund 2000 Siemensianer demonstrieren in München
vor der Konzernzentrale, einem in Rosa gehaltenen Palais, gegen
Stellenstreichungen. Viele Trillerpfeifen schrillen. „Es ist nichts
dagegen einzuwenden, dass sich Siemens international weiter
verwurzelt“, sagt Lothar Adler, der Betriebsratschef. „Dabei sollten
aber die deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die
Standorte nicht entwurzelt werden.“ Adler hat zuletzt manchen Kampf
mit der Siemens-Spitze um Arbeitsplätze ausgefochten. Nun bietet
Smart neuen Konfliktstoff. „Wir befürchten, dass sich der ohnehin
schon massive Personalabbau in Deutschland fortsetzen wird und auch
Forschung und Entwicklung an den deutschen Standorten gefährdet
sind“, sagt Adler. „Wann wurde zuletzt ein Werk in Deutschland
eröffnet?“
Eine rhetorische Frage. Von 405.000 Siemensianern arbeiten
noch 128.000 in Deutschland. Der deutsche Anteil an der
Gesamtbelegschaft sank binnen eines Jahrzehnts von 40 auf etwa 30
Prozent.
„Hier kostet eben die Arbeitsstunde eines Ingenieurs nur
ein Zehntel dessen, was in Deutschland bezahlt wird“, sagt
Siemens-Manager Usgaonkar im fernen Goa. Wer ihm zuhört, ahnt, dass
der Konzern vor einer Zerreißprobe steht. Usgaonkar hat einen Monat
bei Siemens in Erlangen gearbeitet.
Versteht der Inder, wenn sich Arbeiter in Deutschland vor
der Billigkonkurrenz aus dem eigenen Konzern fürchten? „Ich glaube
nicht, dass Ihr Angst haben müsst. Lasst uns die Basisprodukte. Ihr
könnt euch auf Hightech konzentrieren.“ Das klingt vielleicht ein
wenig gönnerhaft. Aber es könnte stimmen.
Weiße Flecken besetzen
Görlitz, eine sächsische Kleinstadt an der Grenze zu Polen.
Am Pförtnerhaus des Siemenswerks steht eine pechschwarze Turbine,
die jedem Industriemuseum gut zu Gesicht stünde. Sie kündet von
einer Tradition im Maschinenbau, die bis ins Jahr 1847 zurückreicht.
Heute bauen hier in Görlitz 900 Siemensianer Dampfturbinen.
Backsteinerne Fabrikgebäude aus der Gründerzeit wechseln
sich mit modernen Industriehallen, umhüllt von Aluminium, ab.
Siemens hat Görlitz zu seinem „Hauptstandort für Industrieturbinen“
ausgebaut, wie Detlef Haje sagt. Haje ist Chefingenieur, seit 1996
schon arbeitet er für Siemens. Am Hemdkragen trägt der 45 Jahre alte
Maschinenbauer den Schriftzug des Unternehmens. Haje führt durch die
Hallen. Aus Vierkantstahl fräst eine computergesteuerte Maschine
eine Endschaufel, das Herzstück jeder Turbine. Nebenan schraubt ein
Arbeiter an einer Turbine, die so groß ist wie ein Schwerlaster, sie
geht nach Saudi-Arabien.
Siemens hat ein „Netzwerk“ aus sieben Turbinen-Standorten
geschaffen – mit dem Hightech-Werk Görlitz im Mittelpunkt, aber mit
auch Fertigungsstätten im indischen Vadodara und dem brasilianischen
Jundiai. Und da kommt Smart ins Spiel. In Görlitz wird eine Turbine
für den gesamten Konzern entwickelt, Ingenieure in Indien und
Brasilien passen sie dann den örtlichen Bedürfnissen an. Görlitz,
meint Haje, sei gut ausgelastet mit „Maßanfertigungen“ für
zahlungskräftige Kunden. Die Kollegen in den Schwellenländern seien
hingegen auf „standardisierte Lösungen“ spezialisiert.
„Es würde keinen Sinn machen, hier in Görlitz Turbinen etwa
für die brasilianische Zuckerindustrie oder für Biomasse-Anlagen in
Indien zu fertigen. Für einfachere Anwendungen brauchen wir
einfachere Turbinen“, sagt Haje. Der Maschinenbauer sitzt mit
Kollegen aus den Bric-Staaten in Projektteams zusammen, hält
Telefonkonferenzen ab, tauscht Baupläne aus, um die beste Lösung für
den lokalen Markt zu finden. Da lassen etwa die Ingenieure eine der
Schaufelreihen weg. Sie verringern dadurch den Wirkungsgrad, machen
aber auch die Turbine rund ein Drittel billiger. Auch hier also:
Siemens light. Die Gefahr, dass der Konzern mit seiner Strategie die
Marke beschädigt, hält Haje für gering. Man mache bei der Qualität
keine Abstriche. „Überall steht ,made by Siemens‘ drauf. Und damit
handelt es sich ohne Einschränkungen um ein echtes Siemens-Fabrikat
– egal ob aus Indien oder aus Görlitz.“
Smart gefährde auch keine Jobs in Deutschland, gibt sich
Haje überzeugt. „Im Gegenteil: Die Arbeitsplätze werden sicherer,
weil Siemens den lokalen Wettbewerbern in den Schwellenländern den
weltweiten Aufstieg erschwert und zugleich ganz neue Märkte erobern
kann.“ Und fließt nicht deutsches Ingenieurswissen unwiederbringlich
ins Ausland ab? Nein, sagt Haje. Das Wissen der 150 Ingenieure in
Görlitz sei auch in Zukunft gefragt – für die „Maßanfertigungen“,
aber auch, um Hochtechnologielösungen zu finden, die dann,
intelligent vereinfacht, woanders zur Anwendung kommen. „Wir decken
Märkte ab, die sonst für uns weiße Flecken wären“, sagt er zum
Abschied.
Diese internationale Arbeitsteilung bei Forschung und
Entwicklung findet auch Strategiechef Busch sinnvoll. „Man kann von
ein und demselben Entwickler nicht erwarten, dass er vormittags
einen Luxuswagen entwickelt und nachmittags einen Tata Nano.“
Übertragen auf die Medizintechnik, ist der indische
Kleinstwagen ein Röntgengerät, das mit einer simplen Solaranlage auf
einem Dach irgendwo in Indien verbunden ist. Oder ein mobiles
Instrument zum Messen des Herzschlags eines Ungeborenen. In Indien
muss ein Arzt in einem Krankenhaus rund 50 Schwangere parallel
betreuen. Ein Messgerät, das eine Schwangere um ihren Bauch trägt,
meldet per Funk dem Arzt etwaige Probleme. „Auf so ein Produkt würde
in Deutschland niemand kommen, denn unser ärztliches
Versorgungssystem braucht solche Produkte nicht“, sagt Busch.
Risse im Damm
Doch ist die Siemens-Welt wirklich noch so klar aufgeteilt
in Hochtechnologie hier, Light-Versionen dort? Der Damm weist erste
Risse auf. Somatom Spirit heißt ein Computertomograf, der bereits
2005 auf den Markt kam. Er bedeutete den Start der neuen Strategie.
Das Einsteigergerät beherrscht Standardanwendungen wie
Thorax-Untersuchungen, die Qualität reicht jedoch nicht, um ein Herz
zu scannen.
Siemens-Chef Löscher lobt den Somatom Spirit in vielen
Reden als Musterbeispiel für die Zusammenarbeit in der Siemens-Welt.
Rund 100 Ingenieure tüftelten zwei Jahre lang an dem Apparat, der
Chinese Jun Kong leitete von Shanghai aus ein hundertköpfiges Team.
„In manch einem entlegenen chinesischen Krankenhaus in den
Kleinstädten mussten meine Kollegen schon mal erklären, wie eine
Computermaus funktioniert. Dabei lernt man unheimlich viel darüber,
was die Kunden in aufstrebenden Märkten wie China eigentlich
brauchen“, erklärt Kong in dem Siemens-Buch „Innovatoren und
Innovationen“. Heraus kam – letztlich auch mithilfe von Ingenieuren
aus Erlangen und Forchheim – dieser abgespeckte Tomograf. Der etwa
200.000 Dollar teure Somatom Spirit wird in 60 Länder exportiert.
Genau dieser Exporterfolg ruft Kritiker auf den Plan. Das Wunderding
mache den deutschen Arbeitnehmervertretern „natürlich Sorgen“, sagt
Betriebsratschef Adler.
Außerdem: Ein Tata Nano wird einem S-Klasse-Mercedes wohl
kaum Konkurrenz machen. Wie aber sieht das im deutschen
Gesundheitswesen aus, in dem bekanntlich an allen Ecken und Enden
gespart werden muss? Bei ungefähr 60 Ärzten in Deutschland steht der
Chinesen-Tomograf bereits. Einer von ihnen ist Wolfgang Gerlach, ein
Facharzt für Radiologie in Heidenheim. Die Bedienungssoftware sei
zwar bisweilen anfällig, kritisiert der Arzt. Insgesamt sei er
jedoch mit dem Gerät durchaus zufrieden. Vor allem die Kompaktheit
habe ihn überzeugt. Der Tomograf passe prima in einen seiner
Praxisräume.
Hatte er denn überhaupt keine Bedenken, einen Apparat made
in China zu kaufen? „Der kommt aus China?“, fragt Gerlach zurück.
„Das wusste ich nicht.“
Manager im Kleinwagen
Um die Begeisterung für Siemens light zu schüren, zwang
Indien-Chef Bruck seine Vorgesetzten aus Deutschland kürzlich zu
einem Experiment. Als der oberste Siemensianer Löscher Indien
besuchte, empfing Bruck ihn in einem Tata Nano. Löscher, knapp zwei
Meter groß, zog den Kopf ein, sortierte seine Füße, bis sie Platz
fanden im billigsten Auto der Welt. Ihm taten es drei weitere
Vorstände gleich. Mit 33 PS fuhren die Siemens-Manager durch Delhi,
einen Moloch, in dem sich Heerscharen von Mopeds und Dreirädern, den
Auto-Rikschas, bewegen. Am Ende stiegen sie alle heil aus dem Wagen.
Mit
dem Nano, sagt Bruck, habe er zeigen können, „was smart ist“. |